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Posthumanismus

eBook - Leben jenseits des Menschen

Erschienen am 15.05.2014, Auflage: 1/2014
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783593422992
Sprache: Deutsch
Umfang: 215 S., 4.57 MB
E-Book
Format: EPUB
DRM: Digitales Wasserzeichen

Beschreibung

Genetik und künstliche Befruchtung, Robotik, Implantate und Computertechnologie haben nicht nur in der Science-Fiction Cyborgs, Zombies und Klone hervorgebracht. Auch in der Philosophie und in den Humanwissenschaften hat sich seit einigen Jahren eine lebendige Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des Menschen angesichts moderner Technologien entwickelt. Rosi Braidotti unternimmt eine faszinierende Tour de Force vom Humanismus zum Zeitalter des Posthumanismus, in das technologischer Fortschritt und Kapitalismus uns katapultiert haben: Der humanistische Mensch männlich, weiß, rational, selbstbewusst, eurozentrisch ist nicht mehr Maß aller Dinge und hat heute, so Braidotti, einem nomadischen, nicht-individuellen Subjekt Platz gemacht. Vor der Folie postkolonialer und feministischer Theorie legt das Buch die Grundlage für eine neue Theorie dieses posthumanen Subjekts: Nicht mit sich selbst identisch, kollektiv und kosmopolitisch ist es vielfältig mit anderen Subjekten vernetzt mit Menschen wie mit Tieren und Dingen. So birgt für Braidotti das Ende des Humanismus eine Utopie: Es eröffnet neue soziale Bindungen und Gemeinschaftlichkeit im globalen Maßstab.

Autorenportrait

Rosi Braidotti ist Professorin für Philosophie an der Universität Utrecht (Niederlande) und dort Gründungsdirektorin des »Centre for the Humanities and Gender Studies«.

Leseprobe

Einleitung

Nicht jeder von uns kann mit Sicherheit sagen, dass wir immer oder ausschließlich menschliche Wesen waren. Manche werden auch heute noch nicht als vollwertige Menschen angesehen, ganz zu schweigen von früheren Epochen in der westlichen Sozial-, Politik- und Wissenschaftsgeschichte. Nicht, wenn wir unter "dem Menschen" jenes Geschöpf verstehen, das wir aus der Aufklärung und ihrem geistigen Erbe kennen: "Das Cartesische Subjekt des Cogito, die Kantische Gemeinschaft vernünftiger Wesen oder, stärker soziologisch gewendet, das Subjekt als Bürger, als Inhaber von Rechten, als Eigentümer und so weiter" (Wolfe 2010a). Und doch herrscht breite Übereinstimmung über diesen Begriff; er besitzt die beruhigende Vertrautheit des Alltagswissens. Wir behaupten unsere Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, als sei sie eine Tatsache, eine Gegebenheit; so sehr, dass wir daraus grundlegende Rechte ableiten. Aber verhält es sich auch so?

Während konservativ-religiöse Kräfte heute vielfach bestrebt sind, das Humane wieder in ein naturrechtliches Denken zurückzuverlagern, wurde der Begriff unter dem doppelten Druck wissenschaftlicher Fortschritte und globaler ökonomischer Interessen gesprengt. Nach der postmodernen, postkolonialen, postindustriellen, postkommunistischen, ja sogar der heftig umstrittenen postfeministischen Phase scheinen wir einzutreten in die posthumane Verwicklung. Statt nur die x-te Variante in einer Abfolge von immer neuen, mehr oder weniger beliebigen Vorsilben zu sein, bedeutet die posthumane Situation einen grundlegenden Wandel in unserer Vorstellung dessen, was eigentlich unsere Gattung, unser Gemeinwesen und unser Verhältnis zu anderen Bewohnern dieses Planeten ausmacht. Das wirft ernsthafte Fragen auf, die nicht weniger als die Strukturen unserer gemeinsamen Identität - als Menschen - in der Komplexität der heutigen Wissenschaft und Politik oder der internationalen Beziehungen betreffen. In unseren globalisierten, technologisch vermittelten Gesellschaften verbreiten und überlagern sich Diskurse und Vorstellungen des Nichtmenschlichen, Unmenschlichen, Menschenfeindlichen, Inhumanen und Posthumanen.

Die in der Alltagskultur geführten Debatten reichen von nüchtern-geschäftlichen Auseinandersetzungen mit Robotik, Prothesentechnik, Neurowissenschaften und biogenetischem Kapital bis hin zu wolkigen New-Age-Visionen eines Transhumanismus und einer Technotranszendenz. In ihrem Zentrum steht die menschliche Weiterentwicklung. Im akademischen Diskurs wird das Posthumane entweder als die kommende Herausforderung für die Kulturtheorie und als neues kritisches Denken begrüßt, oder es wird als der letzte Schrei in einer Serie modischer "Post"-ismen abgetan. Das Posthumane ruft Begeisterung hervor, aber auch Befürchtungen hinsichtlich einer möglichen Dezentrierung "des Menschen" als dem bisherigen Maß aller Dinge (Habermas 2001). So ist die Sorge verbreitet, die herrschende Auffassung des menschlichen Subjekts und das darauf beruhende Wissenschaftsgebiet, die Geistes- und Humanwissenschaften, könnten an Bedeutung verlieren.

Meiner Auffassung nach liegt der gemeinsame Nenner der posthumanen Situation in einer Vorstellung von der vitalen, selbstorganisierenden, aber nicht-naturalistischen Struktur des Lebendigen selbst. Dieses Natur-Kultur-Kontinuum bildet den allgemeinen Ausgangspunkt für meinen Überblick über das Gebiet posthumaner Theorie. Ob diese post-naturalistische Annahme zu spielerischen Experimenten mit den Grenzen körperlicher Perfektionierbarkeit, zu moralischer Entrüstung über die Verletzung jahrhundertealter Glaubenssätze bezüglich der menschlichen "Natur" oder zur gewinnträchtigen Verwertung von genetischem und neuronalem Kapital führen wird, bleibt allerdings abzuwarten. In diesem Buch will ich versuchen, diese Zugänge zu erkunden und mich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, indem ich für eine posthumane Subjektivität plädiere.

Was hat es mit diesem Natur-Kultur-Kontinuum auf sich? Es bezeichnet ein wissenschaftliches Paradigma, das auf Distanz zu dem weit verbreiteten sozialkonstruktivistischen Ansatz geht. Dieser Ansatz beruht auf einer kategorialen Unterscheidung zwischen dem Gegebenen (Natur) und dem Konstruierten (Kultur). Durch diese Unterscheidung lässt sich der Gegenstand der Sozialwissenschaften genauer bestimmen; sie macht es möglich, die Untersuchung und Kritik der gesellschaftlichen Mechanismen, auf denen die Konstruktion von Identitäten, Institutionen und Praktiken beruht, auf eine feste Grundlage zu stellen. Politisch geht es dabei um den Versuch, soziale Unterschiede zu entnaturalisieren, indem gezeigt wird, dass sie das Produkt von Geschichte und menschlichem Tun sind. Man denke nur an die weltverändernde Wirkung des Satzes von Simone de Beauvoir (1992 [1949]): "Man kommt als Frau nicht zur Welt, man wird es." Diese Einsicht in die gesellschaftliche Natur sozialer Ungleichheiten und damit in ihre historische Veränderlichkeit eröffnet den Weg zu ihrer Auflösung durch menschliches Handeln in Form von politischer Tätigkeit.

Diese Betrachtungsweise, die auf dem Gegensatz zwischen dem Gegebenen und dem Konstruierten beruht, wird gegenwärtig verdrängt durch ein nicht-dualistisches Verständnis von Natur und Kultur. Es verbindet sich in meiner Sicht mit einer monistischen Philosophie, die den Dualismus - besonders den Gegensatz von Natur und Kultur - ablehnt und die selbstorganisierende (oder autopoietische) Kraft lebendiger Materie betont. Wissenschaftliche und technische Fortschritte haben die Grenzen zwischen Natur und Kultur verschoben und zum großen Teil verwischt. Dieses Buch geht davon aus, dass die Gesellschaftstheorie eine Bestandsaufnahme der durch diesen Paradigmenwechsel veränderten Begriffe, Methoden und politischen Praktiken vornehmen muss. Umgekehrt ist die Frage, welche Art von politischer Analyse und progressiver Politik durch diese auf dem Natur-Kultur-Kontinuum beruhende Betrachtung gefördert wird, von zentraler Bedeutung für die Agenda der posthumanen Verwicklung.

Die Fragen, mit denen ich mich in diesem Buch beschäftigen will, sind erstens: Was ist das Posthumane? Genauer gesagt, was sind die theoretischen und historischen Zugänge, die uns zu ihm hinführen? Zweitens: Wo bleibt eigentlich in der posthumanen Situation das Humane? Genauer gesagt, welche neuen Formen von Subjektivität werden durch das Posthumane gefördert? Drittens: Wie erzeugt das Posthumane seine eigenen Formen von Inhumanität? Genauer gesagt, wie können wir den inhumanen oder unmenschlichen Aspekten unserer Zeit widerstehen? Und schließlich, wie beeinflusst das Posthumane die Tätigkeit der heutigen Geistes- und Humanwissenschaften? Genauer gesagt, was ist eigentlich in posthumanen Zeiten die Funktion von Theorie?

Dieses Buch bewegt sich auf dem Grat zwischen der Faszination, die durch die posthumane Situation als einem zentralen Aspekt unserer Historizität entsteht, und der Besorgnis hinsichtlich ihrer Auswüchse und Machtmissbräuche und der Haltbarkeit mancher ihrer Grundprämissen. Die Faszination hängt, wie ich meine, teilweise mit dem zusammen, was in der heutigen Welt die Aufgabe kritischer Theorie sein sollte, nämlich adäquate Darstellungen unserer situativ-historischen Verortung zu liefern. Dieses an sich bescheidene kartographische Ziel, das sich mit dem Ideal der Hervorbringung gesellschaftlich relevanter Erkenntnis verbindet, geht über in eine abstraktere und anspruchsvollere Frage, die Frage nach dem Status und dem Wert von Theorie.

Verschiedene Kulturtheoretiker haben sich zur Ambivalenz der "posttheoretischen Malaise" in den heutigen Human- und Sozialwissenschaften geäußert. So heben zum Beispiel Tom Cohen, Claire Colebrook und J. Hillis Miller (2012) die positive Seite dieser "posttheoretischen" Phase hervor, nämlich die Tatsache, dass sie gleichermaßen die neuen Möglichkeiten wie auch die Gefahren heutiger Wissenschaft registriert. Die negativen Seiten liegen aber genauso auf der Hand, vor allem der Mangel an geeigneten kritischen Rastern zur Untersuchung der Gegenwart.

Ich glaube, dass die theoriefeindliche Wende mit den Widrigkeiten der geistigen Situation zu tun hat. Nach dem offiziellen Ende des Kalten Krieges wurden die politischen Bewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskreditiert und ihre theoretischen Anstrengungen als gescheiterte historische Experimente verworfen. Die "neue" Ideologie der freien Marktwirtschaft hat sich trotz massiver Proteste aus vielen gesellschaftlichen Bereichen über jede Opposition hinweggesetzt und den Antiintellektualismus zu einem hervorstechenden Zug unserer Zeit gemacht. Das trifft besonders die Geistes- und Humanwissenschaften, weil es die differenzierte Analyse zurückweist zugunsten des "Common Sense" - der Tyrannei der doxa - und des wirtschaftlichen Profits, dem schlichten Eigennutz. "Theorie" hat in diesem Zusammenhang ihren Status verloren, wird oft als Spinnerei oder narzisstische Selbstbefriedigung abgetan. Im Endeffekt wurde in der geisteswissenschaftlichen Forschung ein flacher Neoempirismus - der oft nicht viel mehr ist als Datenauswertung - zur methodologischen Norm.

Die Frage der Methode verdient besondere Beachtung. Können wir der Macht theoretischer Interpretation nach dem offiziellen Ende der Ideologien und angesichts der Fortschritte in den Neuro-, Evolutions- und Biowissenschaften noch dieselbe Bedeutung geben wie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Verbindet sich die posthumane Verwicklung nicht auch mit einer posttheoretischen Stimmungslage? Kürzlich hat sich zum Beispiel Bruno Latour - mit seiner epistemologischen Arbeit zur Produktion von Wissen durch Netzwerke menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, Dinge und Gegenstände nicht gerade ein klassischer Humanist - zur Tradition kritischer Theorie und zu ihrem Zusammenhang mit dem europäischen Humanismus geäußert (Latour 2007). Kritisches Denken beruht auf einem sozialkonstruktivistischen Paradigma, das seinem Wesen nach den Glauben an Theorie als Werkzeug zur Erfahrung und Darstellung von Wirklichkeit verkündet, aber ist dieser Glaube noch zeitgemäß? Latour bekundete ernsthafte, selbstkritische Zweifel an der Funktion von Theorie heute.

Es gibt einen unbestreitbar düsteren Beiklang in der posthumanen Situation, besonders in Bezug auf die Entwicklung kritischen Denkens. Es ist, als seien wir nach dem großen Ausbruch an theoretischer Kreativität, der sich in den 1960er und 1970er Jahren ereignete, in eine versteinerte Landschaft unterschiedsloser Wiederholung und grassierender Melancholie eingetreten. Etwas Gespenstisches hat sich in unsere Denkformen eingeschlichen, befördert auf der Rechten des politischen Spektrums von Vorstellungen über das Ende ideologischer Zeit (Fukuyama 1992) und die Unvermeidlichkeit zivilisatorischer Kreuzzüge (Huntington 1997). Auf Seiten der politischen Linken wiederum hat die Ablehnung von Theorie zu einer Woge von Ressentiment und Negativismus gegenüber früheren intellektuellen Generationen geführt. In diesem Kontext der Theoriemüdigkeit plädierten neokommunistische Intellektuelle (Badiou/´i¸ek 2005) für eine Rückkehr zum konkreten politischen Handeln, notfalls zur gewalttätigen Konfrontation, um sich nicht in theoretischer Spekulation zu ergehen. Sie haben dazu beigetragen, die philosophischen Theorien des Poststrukturalismus aus der Mode bringen.

Als Antwort auf dieses negative soziale Klima möchte ich posthumane Theorie als ein Instrument betrachten, das sowohl der Genealogie als auch der Orientierung dient. Sie scheint mir nützlich als Erkundung von Möglichkeiten, sich mit der Gegenwart affirmativ auseinanderzusetzen und einige ihrer Merkmale in einer Form zu erklären, die empirisch begründet, aber nicht reduktionistisch ist und kritisch bleibt, ohne in Negativität zu verfallen. Ich möchte einige der Wege nachzeichnen, auf denen das Posthumane als Leitgedanke in unseren global vernetzten und technologisch vermittelten Gesellschaften Verbreitung findet. Posthumane Theorie ist, genauer gesagt, ein generatives Werkzeug, das uns hilft, im biogenetischen Zeitalter des "Anthropozän" - dem erdgeschichtlichen Moment, in dem das Humane zu einer alles Leben beeinflussenden geologischen Kraft wird - die Bezugseinheit des Humanen neu zu begreifen. Sie kann uns dadurch auch zu einem neuen Verständnis dessen verhelfen, was die Grundbedingungen unseres planetarischen Zusammenwirkens mit menschlichen wie auch nichtmenschlichen Akteuren sind. Führen wir für die Widersprüche unserer posthumanen historischen Situation einige Beispiele an.

Vignette 1

Im November 2007 eröffnete Pekka-Eric Auvinen, ein 18-jähriger Finne, in einer Schule in der Nähe von Helsinki das Feuer auf seine Klassenkameraden. Er tötete acht Menschen, bevor er sich selbst erschoss. Vor dem Blutbad postete der junge Mörder ein Video von sich auf YouTube. Er trug ein T-Shirt mit der Aufschrift: "Die Menschheit wird überbewertet."

Dass sich die Menschheit in einer kritischen Situation befindet - manche würden sagen: vor dem Untergang -, war seit dem von Nietzsche verkündeten "Tod Gottes" und der Idee des Menschen, die auf ihm beruht, ein Leitmotiv europäischer Philosophie. Nietzsches bombastische Feststellung zielte auf einen bescheideneren Punkt. Was er behauptete, war das Ende der selbstverständlichen Stellung, die der menschlichen Natur durch den allgemeinen Glauben an die metaphysisch feststehende Allgemeingültigkeit des europäischen humanistischen Subjekts beigelegt wurde. Die nietzscheanische Genealogie betont die Bedeutung der Interpretation anstelle der dogmatischen Einsetzung von natürlichen Gesetzen und Werten. Die Hauptpunkte auf der philosophischen Agenda waren seither erstens, wie sich nach dem Schock der Anerkennung eines Zustands ontologischer Ungewissheit kritisches Denken entwickeln lässt; und zweitens, wie sich der Sinn für eine durch Gemeinsamkeit und moralische Verantwortlichkeit verbundene Gemeinschaft wiederherstellen lässt, ohne dass man in einen negativistischen Skeptizismus verfällt.

Wie die finnische Episode zeigt, darf philosophischer Antihumanismus nicht verwechselt werden mit einem zynisch-nihilistischen Menschenhass. Die Menschheit mag überschätzt werden, aber wenn die Erdbevölkerung die Acht-Milliarden-Grenze erreicht, wirkt jedes Untergangsgerede schlichtweg naiv. Und doch steht angesichts von Umweltkrise und Klimawandel die Frage ökologischer wie auch sozialer Nachhaltigkeit weltweit an der Spitze der meisten Regierungsprogramme. Die Frage, die Bertrand Russell im Jahre 1963 - auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges und der nuklearen Konfrontation - formulierte, klingt deshalb aktueller denn je: Hat der Mensch eine Zukunft? Bildet die Wahl zwischen Nachhaltigkeit und Auslöschung den Horizont unserer gemeinsamen Zukunft, oder gibt es noch andere Optionen? Die Frage nach den Grenzen sowohl des Humanismus als auch seiner antihumanistischen Kritik ist also für die Debatte über die posthumane Verwicklung von zentraler Bedeutung, und ich widme ihr deshalb das erste Kapitel.

Vignette 2

Wie der Guardian berichtete, waren Menschen in vom Krieg heimgesuchten Ländern wie Afghanistan gezwungen, zum Überleben Gras zu essen. Zum gleichen historischen Zeitpunkt wurden in Großbritannien und anderen Ländern der Europäischen Union Kühe mit Tiermehl gefüttert. Die biotechnologische Landwirtschaft der überentwickelten Welt hatte eine ungeahnte kannibalistische Wende vollzogen und mästete Kühe, Schafe und Hühner mit tierischer Nahrung. Diese Praxis wurde später als Ursache der tödlichen BSE-Krankheit diagnostiziert, des sogenannten "Rinderwahnsinns", der das Gehirn der Tiere zersetzt und zu Brei werden lässt. Der Wahnsinn liegt hier jedoch eindeutig bei den Menschen und ihrer Biotechnologie.

Der moderne Kapitalismus erzeugt mit seiner Gentechnologie eine perverse Form des Posthumanen. In seinem Zentrum steht ein radikaler Abbruch der Mensch-Tier-Relation, aber alle Lebewesen geraten in die Mühlen der globalen Ökonomie. Der genetische Code lebendiger Materie - "das Leben selbst" (Rose 2007) - wird zum wichtigsten Kapital. Globalisierung bedeutet die allseitige Kommerzialisierung des Planeten Erde durch eine Reihe zusammenhängender Formen der Vereinnahmung. Nach Auffassung von Donna Haraway gehört dazu die technisch-militärische Verbreitung globaler Mikrokonflikte, die hyperkapitalistische Anhäufung von Reichtum, die Verwandlung des Ökosystems in einen planetarischen Produktionsapparat und das globale Infotainment der neuen Multimediawelt.

Das Schaf Dolly ist ein Symbol für die Komplikationen der heutigen Gentechnologie und der dahinterstehenden Anleger und Spekulanten. Tiere liefern lebendiges Material für wissenschaftliche Experimente. Sie werden manipuliert, misshandelt, gefoltert und genetisch verändert zum Nutzen unserer gentechnologischen Landwirtschaft, der Kosmetik- und Pharmaindustrie oder anderer Wirtschaftszweige. Tiere werden auch als exotische Waren verkauft und bilden nach dem Drogen- und Waffenhandel, aber noch vor dem Frauenhandel den weltweit drittgrößten Markt für illegale Produkte.

Mäuse, Schafe, Ziegen, Rinder, Schweine, Kaninchen, Vögel, Geflügel und Katzen werden in landwirtschaftlichen Betrieben gezüchtet und in parzellierten Produktionsgehegen oder Käfigbatterien gehalten. Freilich sind, wie es George Orwell prophetisch formulierte, zwar alle Tiere gleich, aber manche gleicher. So werden in der Europäischen Union die Viehbestände als Bestandteil des biotechnologisch-industriellen Komplexes mit umgerechnet 803 US-Dollar pro Kuh subventioniert. Das ist erheblich weniger als die 1.057 Dollar für jede amerikanische Kuh und die 2.555 Dollar, die auf jede Kuh in Japan entfällt. Noch ominöser wirken diese Zahlen, vergleicht man sie mit dem Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen in Ländern wie Äthiopien (umgerechnet 120 US-Dollar), Bangladesh (360 Dollar), Angola (660 Dollar) oder Honduras (920 Dollar).

Die andere Seite dieser globalen Vermarktung lebendiger Organismen ist, dass Tiere teilweise vermenschlicht werden. So wurde zur Bekämpfung solcher Auswüchse auf dem Gebiet der Bioethik die Frage nach "Menschen"-Rechten für Tiere gestellt. In den meisten liberalen Demokratien ist der Schutz von Tierrechten ein aktuelles politisches Thema. Die Verbindung von Kapitalanlagen und Missbrauch ist die paradoxe posthumane Situation, die durch den modernen Kapitalismus selbst entsteht und vielfältige Widerstände hervorruft. Ich werde die neue postanthropozentrische Auffassung von Tieren ausführlich im zweiten Kapitel behandeln.

Vignette 3

Am 10. Oktober 2011 wurde Muammar al-Gaddafi, der entmachtete Staatschef von Libyen, in seiner Heimatstadt Sirte von Mitgliedern des Nationalen Übergangsrats (NTC) gefangengenommen, verprügelt und getötet. Bevor er jedoch von den Rebellen erschossen wurde, war der Konvoi von Oberst Gaddafi von französischen Kampfjets und von einer amerikanischen Predator-Drohne bombardiert worden, die auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in Sizilien gestartet und via Satellit aus einer Air Base bei Las Vegas gesteuert wurde.

Während sich die Medien in aller Welt auf die Brutalität der eigentlichen Erschießung und auf die Unwürdigkeit der globalen Zurschaustellung von Gaddafis verwundetem, blutigem Körper konzentrierten, fand jenes andere Phänomen weniger Beachtung, das man als die posthumane Seite heutiger Kriegführung bezeichnen kann: die von unserer modernen Technologie geschaffene Ferntötungsmaschinerie. Angesichts der Abscheulichkeit von Gaddafis Ende, auch ungeachtet seiner eigenen tyrannischen Despotie, musste man es fast schon beschämend finden, ein Mensch zu sein. Die Verleugnung der Rolle jedoch, die bei seinem Ende die hochgezüchtete Drohnentötungstechnologie der entwickelten Welt gespielt hatte, fügte dem noch ein zusätzliches moralisch-politisches Unbehagen hinzu.

Die posthumane Verwicklung verfügt über ein nicht gerade bescheidenes Spektrum von inhumanen Aspekten. Die Brutalität der neuen Kriege verdankt sich in einer globalisierten, von Angst regierten Welt nicht nur der Regierung der Lebenden, sondern auch vielfältigen Formen des Sterbens, besonders in Ländern im Übergang. Biomacht und Nekropolitik sind, wie Achille Mbembe (2011) verdeutlicht, zwei Seiten einer Medaille. Die Zeit nach dem Kalten Krieg hat nicht nur eine dramatische Zunahme von Kriegen erlebt, sondern auch eine tiefgreifende Veränderung der Kriegführung selbst, die zu einem weitaus komplexeren Überlebens- und Vernichtungsmanagement geworden ist. Die heutigen Tötungstechniken sind posthuman durch das Ausmaß ihrer technologischen Vermitteltheit. Kann man den Computer-Bediener, der in einem Steuerungsraum in Las Vegas die Predator-Drohne flog, als "Piloten" bezeichnen? Wie unterscheidet er sich von den Air-Force-Boys, die die Enola Gay über Hiroshima und Nagasaki flogen? Heutige Kriege haben unsere nekropolitische Macht auf ein neues Niveau der "materiellen Zerstörung menschlicher Körper und Bevölkerungen" (Mbembe 2011: 65) gehoben. Und nicht allein menschlicher.

Die neuen Nekrotechnologien operieren in einem sozialen Klima, das von einer politischen Ökonomie der Nostalgie und Paranoia auf der einen Seite und der Euphorie und Begeisterung auf der anderen beherrscht wird. Diese manisch-depressive Situation äußert sich in verschiedenen Variationen: in der Furcht vor der bevorstehenden Katastrophe, die nur darauf wartet, einzutreten, im Schrecken aktueller Verwüstungen wie dem Hurrikan Katrina oder in der Angst vor der nächsten Umweltkatastrophe. Vom zu niedrig fliegenden Flugzeug über die Risiken genetischer Mutationen bis hin zum Zusammenbruch der Immunsysteme - das Unglück steht vor der Tür, es bahnt sich an und ist praktisch gewiss, es ist nur eine Frage der Zeit, wann es ausbricht (Massumi 1992). Durch diesen Zustand der Unsicherheit ist das gesellschaftlich erzwungene Ziel nicht Veränderung, sondern Bewahrung oder Überleben. Ich komme auf diese nekropolitischen Aspekte im 3. Kapitel zurück.

Vignette 4

Bei einer Tagung der Königlich-Niederländischen Akademie der Wissenschaften über die Zukunft der Geisteswissenschaften wurden diese vor einigen Jahren von einem Professor für Kognitionswissenschaft frontal attackiert. Seine Angriffe bezogen sich auf die aus seiner Sicht grundlegenden Defizite der Geistes- und Humanwissenschaften: auf ihren Anthropozentrismus und methodologischen Nationalismus. Der renommierte Wissenschaftler fand diese beiden Mängel so gravierend, dass ihr Status quo seiner Ansicht nach nicht der modernen Wissenschaft entsprach. Sie verdienten deshalb keine weitere Förderung durch das zuständige Ministerium.

Die Krise des Humanen und sein posthumanes Zerfallsprodukt hat schwerwiegende Konsequenzen für das am engsten damit verbundene Wissenschaftsgebiet - die Geisteswissenschaften, die im angelsächsischen Sprachraum "Humanities" heißen. Im neoliberalen Klima der heutzutage entwickeltsten Demokratien wurden geisteswissenschaftliche Studien zu einer Art Bildungsangebot für höhere Töchter herabgestuft, dessen Niveau noch unter dem der "Soft Sciences" liegt. Da sie eher als persönliches Hobby denn als professionelle Wissenschaft gelten, scheinen mir die "Humanities" in den europäischen Studiengängen des 21. Jahrhunderts ernsthaft vom Aussterben bedroht.

Ein weiteres Motiv meiner Beschäftigung mit dem Posthumanen lässt sich deshalb an einem grundlegenden Gefühl staatsbürgerlicher Verantwortung für die heutige Funktion von Wissenschaft festmachen. Ein Denker auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, jemand, der als "Intellektueller" bekannt war, dürfte heute nicht mehr genau wissen, welche Rolle er eigentlich in der Öffentlichkeit zu spielen hat. Man könnte sagen, dass mein Interesse am Posthumanen aus einer allzu menschlichen Sorge um die Frage entspringt, welche Art von Wissen und geistigen Werten wir heute als Gesellschaft hervorbringen. Ich sorge mich, genauer gesagt, um den Status der universitären Forschung auf jenem Gebiet, das wir in Ermangelung eines besseren Begriffs noch immer Geisteswissenschaften oder "Humanities" nennen. Meine Gedanken zur Universität heute werde ich im 4. Kapitel entwickeln.

Dieses Verantwortungsgefühl ist auch Ausdruck eines Denkens, das mir persönlich am Herzen liegt, weil ich einer Generation angehöre, die einen Traum hatte. Es war und ist der Traum von wirklichen Gemeinschaften des Lernens: von Schulen, Universitäten, Büchern und Studiengängen, Diskussionskreisen, Theater-, Rundfunk-, Fernseh- oder Medienprogrammen - und später auch Webseiten und Computerwelten -, die so aussehen wie die Gesellschaft, die sie gleichermaßen widerspiegeln, bedienen und aufbauen helfen. Es ist der Traum eines gesellschaftlich relevanten Wissens, das auf Grundprinzipien sozialer Gerechtigkeit eingestellt ist, die Achtung menschlicher Würde und Vielfalt, die Ablehnung falscher Universalismen, die Bejahung der Differenz, das Prinzip der akademischen Freiheit, des Antirassismus, der Offenheit für andere und des Zusammenlebens. Auch wenn ich dem Antihumanismus zuneige, fällt es mir nicht schwer zu erkennen, dass diese Ideale voll und ganz vereinbar sind mit den besten humanistischen Werten. Dieses Buch ist nicht dazu gedacht, in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen Partei zu ergreifen, es soll vielmehr die Komplexitäten erklären, in die wir hineingeraten sind. Ich schlage neue Möglichkeiten vor, Kritik mit Kreativität zu verbinden, das "Aktive" auf politischen "Aktivismus" zurückzubeziehen, in Richtung auf eine Vision posthumaner Humanität für das globale Zeitalter.

Posthumanes Wissen - und das ihm zugrunde liegende Erkenntnissubjekt - bringt eine grundlegende Hinwendung zu Prinzipien der Gemeinschaftsbindung zum Ausdruck und vermeidet dabei die doppelte Falle von konservativer Nostalgie und neoliberaler Euphorie. Dieses Buch ist begründet in meinem Glauben an eine neue Generation von "Erkenntnissubjekten", die im Geiste einer konstruktiven Pan-Humanität darauf hinarbeiten, uns von geistigem Provinzialismus, sektiererischen Ideologien, unredlichen Verlautbarungen und lähmender Angst zu befreien. Dieses Bestreben prägt auch meine Vision dessen, was eine Universität sein sollte - ein Universum, das der Welt von heute dient, nicht nur als epistemologische Stätte der wissenschaftlichen Produktion, sondern auch als ein epistemophiles Verlangen nach der Macht, die durch Wissen entsteht und unsere Subjekthaftigkeit stärkt. Ich würde dieses Verlangen als ein radikales Streben nach Freiheit durch das Verständnis der besonderen Machtbedingungen und Machtverhältnisse definieren, die unsere historischen Verortungen bedrohen. Dazu gehört auch die Macht, die jeder und jede von uns auf mikro- wie auf makropolitischer Ebene im alltäglichen Netzwerk sozialer Beziehungen ausübt.

In gewisser Weise steht mein Interesse am Posthumanen in einem direkten Zusammenhang mit meinem Gefühl der Ernüchterung, was die menschlichen, allzu menschlichen Möglichkeiten und Grenzen unserer gemeinsamen oder persönlichen Intensität und Kreativität betrifft. Deshalb ist für dieses Buch die Frage der Subjektivität so wichtig: Wir müssen neue soziale, ethische und diskursive Formen der Subjektbildung schaffen, damit wir auf die von uns erlebten tiefgreifenden Veränderungen eingestellt sind. Wir müssen also lernen, uns selbst anders zu denken. Ich begreife die posthumane Verwicklung als eine Möglichkeit, alternative Denkweisen, Wissensformen und Selbstbilder zu befördern. Die posthumane Situation zwingt uns, kritisch und kreativ darüber nachzudenken, wer oder was wir im Prozess des Werdens eigentlich sind.

Erstes Kapitel

Posthumanismus: Leben jenseits des Selbst

Am Anfang war Er: das klassische Ideal "des Menschen", zuerst von Protagoras zum "Maß aller Dinge" erhoben, später in der italienischen Renaissance erneuert zu einem Universalmodell, das seine bildliche Darstellung in Leonardo da Vincis vitruvianischem Menschen fand (Abb. 1.1). Ein Idealbild körperlicher Vollkommenheit, das nach dem klassischen Diktum mens sana in corpore sano in einer Reihe mentaler, diskursiver und geistiger Werte zum Ausdruck kommt. Zusammen vertreten sie eine bestimmte Auffassung des "Humanen". Mehr noch, sie behaupten mit unerschütterlicher Gewissheit, dass Menschen nahezu unbegrenzt nach ihrer individuellen und universellen Vervollkommnung streben. Dieses ikonische Bild ist das Symbol des Humanismus als einer Lehre, in der sich die biologische, diskursive und moralische Entwicklung menschlicher Fähigkeiten mit der teleologischen Idee eines rationalen Fortschritts verbindet. Der Glaube an die einzigartigen, selbstregulierenden und im Kern moralischen Kräfte menschlicher Vernunft bildet einen integralen Bestandteil dieses hochhumanistischen Ideals, das vor allem im 18. und 19. Jahrhundert anhand der Interpretation klassischer Prinzipien der Antike und der italienischen Renaissance begründet wurde.

Dieses Modell setzt nicht nur individuelle, sondern auch kulturelle Maßstäbe. Der Humanismus entwickelte sich zu einen Zivilisationsmodell, von dem eine bestimmte Idee Europas als dem Inbegriff der universalisierenden Kräfte selbstreflexiver Vernunft geprägt wird. Kanonisiert wurde diese Umwandlung des humanistischen Ideals zum hegemonialen Kulturmodell durch Hegels Geschichtsphilosophie. Europa ist in dieser selbsterhöhenden Vision kein bloßer geopolitischer Ort, sondern ein allgemeines Attribut des menschlichen Verstandes, der seine Eigenart jedem entsprechenden Gegenstand beilegen kann. Das ist die Ansicht Husserls in seiner bekannten Schrift über Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936), einer leidenschaftlichen Verteidigung der universalen Kräfte der Vernunft gegen den geistig-moralischen Verfall, der in den 1930er Jahren durch die zunehmende Bedrohung des europäischen Faschismus symbolisiert wurde. In Husserls Sicht bekundet sich Europa als der Ursprungsort kritischer Vernunft und Selbstreflexion, zweier Grundeigenschaften der humanistischen Norm. Europa als Allgemeinbewusstsein, das nur sich selbst gleichkommt, transzendiert seine Besonderheit oder postuliert vielmehr die Macht der Transzendenz als sein besonderes Merkmal und den humanistischen Universalismus als seine Eigenart. Der Eurozentrismus wird damit zu mehr als nur einer besonderen Einstellung: Er ist ein Grundelement unserer kulturellen Praxis, die sowohl theoretisch als auch gesellschaftlich und pädagogisch begründet ist. Als Zivilisationsideal beförderte der Humanismus "im 19. Jahrhundert die imperialen Bestrebungen Deutschlands, Frankreichs und, allen voran, Großbritanniens" (Davies 1997: 23).

Dieses eurozentrische Paradigma setzt die Dialektik des Selbst und des Anderen und die binäre Logik von Identität und Alterität als Triebkraft und kulturelle Logik des universalen Humanismus voraus. Grundlegend für diese universalistische Haltung und ihre binäre Logik ist ein abwertender Begriff von "Differenz". Subjektivität wird mit Bewusstsein, allgemeiner Rationalität und moralischer Selbstbestimmung gleichgesetzt, Alterität zu ihrem negativen Spiegelbild. Wenn Differenz zum Ausdruck von Minderwertigkeit wird, bekommt sie eine qualitative, tödliche Bedeutung für jene, die als "Andere" gekennzeichnet werden. Sie sind die sexualisierten, rassisierten und naturalisierten Anderen, die man als überflüssige Körper auf einen nicht mehr menschlichen Status reduziert. Wir sind allesamt Menschen, aber manche von uns sind sterblicher als andere. Weil die Geschichte dieser anderen "Anderen" in Europa und anderswo eine der tödlichen Ausgrenzung und fatalen Abwertung war, werfen sie Fragen von Macht und Ausschließung auf. Wir brauchen mehr ethisches Verantwortungsgefühl im Umgang mit dem humanistischen Erbe. Tony Davies (1997: 141) schreibt unmissverständlich: "Jeder Humanismus war bisher imperial. Sie sprechen vom Menschlichen im Sinne und im Interesse einer Klasse, eines Geschlechts, einer Rasse, eines Genoms. Ihre Umarmung erstickt jene, die sie nicht kennt. [] Man kann sich kaum ein Verbrechen vorstellen, das nicht im Namen der Humanität begangen wurde." In der Tat - aber leider wurden auch viele Untaten im Namen des Hasses auf die Menschheit begangen, wie der Fall von Pekka-Eric Auvinen in der ersten Vignette der Einleitung zeigt.

Der eingeschränkte Begriff des Humanismus von dem, was als menschlich gilt, ist einer der Schlüssel um zu verstehen, wie es zu einer posthumanen Wende kam. Der Weg dorthin ist alles andere als einfach oder vorhersehbar. Edward Said zum Beispiel macht das Bild noch komplexer, indem er eine postkoloniale Perspektive einführt: "Humanismus als protektiver oder sogar defensiver Nationalismus ist [] ein zweifelhafter Fortschritt durch seinen [] ideologischen Furor und Triumphalismus, auch wenn er manchmal unvermeidlich ist. In einem kolonialen Kontext ist beispielsweise die Wiederbelebung unterdrückter Sprachen und Kulturen, das Bemühen um nationale Selbstbehauptung durch kulturelle Tradition und glorreiche Ahnen [] erklärlich und verständlich" (Said 2004: 37). Diese Beschreibung macht deutlich, wie wichtig es ist, von wo aus man spricht. Ortsunterschiede zwischen Zentren und Rändern haben große Bedeutung, besonders dann, wenn es um das Erbe von etwas so Komplexem und Vielgestaltigem wie dem Humanismus geht. Als Komplize von Verbrechen und Völkermorden auf der einen Seite, als Träger gewaltiger Hoffnungen und Freiheitsbestrebungen auf der anderen widersteht der Humanismus einer eindimensionalen Kritik. Auch dieses Schillern ist verantwortlich für seine Langlebigkeit.

Antihumanismus

Legen wir die Karten gleich auf den Tisch. Ich habe für den Humanismus oder die darin enthaltene Idee des Menschlichen nicht allzu viel übrig. Antihumanismus ist so sehr Teil meiner geistigen und persönlichen Entwicklung wie auch meiner familiären Herkunft, dass die Krise des Humanismus für mich fast eine Banalität ist. Warum?

Politik und Philosophie sind die Hauptgründe dafür, warum ich den Gedanken eines Abschieds vom Humanismus mit seinem eurozentrischen Kern und seinen imperialen Tendenzen immer begrüßt habe. Auch der historische Kontext hat natürlich einiges damit zu tun. Ich bin geistig und politisch in den turbulenten Jahren der Nachkriegszeit groß geworden, als das humanistische Ideal grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Während der 1960er und 1970er Jahre wurde von den neuen sozialen Bewegungen und den damaligen Jugendkulturen ein politischer Antihumanismus entwickelt - durch den Feminismus, durch Entkolonisierung und Antirassismus, durch die Antiatom- und Friedensbewegung. Diese sozialen Bewegungen, zeitlich verbunden mit der Sozial- und Kulturpolitik der sogenannten Baby-Boom-Generation, brachten radikale Gesellschaftstheorien und neue Wissenschaftsbegriffe hervor. Sie stellten die Phraseologie des Kalten Krieges mit ihrer Betonung von westlicher Demokratie, liberalem Individualismus und der dadurch für alle angeblich gesicherten Freiheit in Frage.

Nichts klingt mehr nach theoretischer Midlife crisis als das Eingeständnis seiner Zugehörigkeit zu den Baby-Boomern. Das öffentliche Bild von dieser Generation ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht gerade erhebend. Es sei aber gesagt, dass sie von den vielen gescheiterten Experimenten des 20. Jahrhunderts geprägt war. Faschismus und Holocaust auf der einen Seite, Kommunismus und Gulag auf der anderen markieren wie eine blutgetränkte Waage die Ausschläge auf der Skala des Schreckens. Es gibt einen klaren generationsspezifischen Zusammenhang zwischen diesen historischen Phänomenen und der Ablehnung des Humanismus in den 1960er und 1970er Jahren. Erläutern wir ihn.

Auf der ideologischen Ebene ihres eigenen Denkens lehnten diese zwei historischen Phänomene, Faschismus und Kommunismus, die Grundannahmen des europäischen Humanismus offen oder implizit ab, indem sie diese gewaltsam verrieten. Sie bleiben aber als Bewegungen sehr unterschiedlich in ihren Strukturen und Zielen. Während der Faschismus eine brutale Abkehr von der in der Aufklärung begründeten Achtung vor der Autonomie der Vernunft und dem moralisch Guten predigte, vertrat der Sozialismus einen kommunitären Begriff von humanistischer Solidarität. Seit den utopischen sozialistischen Bewegungen des 18. Jahrhunderts war der sozialistische Humanismus ein Grundzug der europäischen Linken gewesen. Der Marxismus-Leninismus lehnte allerdings diese "naiven" Seiten des sozialistischen Humanismus ab, vor allem die Betonung von individueller Selbstverwirklichung (im Gegensatz zur Entfremdung). Er propagierte stattdessen den "proletarischen Humanismus", auch als "revolutionärer Humanismus" der UdSSR bekannt, der unweigerlich zur allgemein-vernunftgemäßen menschlichen Freiheit durch den und unter dem Kommunismus führen sollte.

Zwei Faktoren trugen in der Nachkriegszeit zur relativen Popularität des kommunistischen Humanismus bei. Der erste liegt in den verheerenden Auswirkungen des Faschismus auf die europäische Sozial-, aber auch Geistesgeschichte. Die Zeit des Faschismus und Nationalsozialismus führte zu einem grundlegenden Bruch in der kontinentaleuropäischen Geschichte kritischer Theorie, indem sie gerade diejenigen Denkschulen zerstörte und aus Europa vertrieb, die - wie vor allem der Marxismus, die Frankfurter Schule, die Psychoanalyse und die Sprengkraft der nietzscheanischen Genealogie (auch wenn der Fall Nietzsche zugegebenermaßen komplex ist) - für die Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung waren. Darüber hinaus hielt der auf den Zweiten Weltkrieg folgende Kalte Krieg und der Ost-West-Gegensatz Europa bis 1989 gespalten, was es nicht leichter machte, diese radikalen Theorien in den Kontinent, der sie mit so selbstzerstörerischer Gewalt vertrieben hatte, wieder einzuführen. Es ist zum Beispiel bezeichnend, dass die von Michel Foucault als wegweisend für die philosophische Ära der kritischen Postmoderne herausgestellten Autoren (Marx, Freud, Darwin) größtenteils dieselben sind, die von den Nazis in den 1930er Jahren verdammt und verbrannt worden waren.

Der zweite Grund für die Popularität des marxistischen Humanismus liegt darin, dass der Kommunismus unter Führung der UdSSR eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung des Faschismus gespielt hatte und dadurch aus dem Zweiten Weltkrieg in jeder Hinsicht als Sieger hervorging. Das hatte zur Folge, dass die Generation, die 1968 politisch mündig wurde, eine positive Auffassung von der marxistischen Praxis und Ideologie übernahm, als dem Resultat des sozialistischen und kommunistischen Antifaschismus und der sowjetischen Kriegsanstrengung gegenüber dem Nationalsozialismus. Diese Affinität kollidierte mit dem geradezu eingefleischten Antikommunismus der amerikanischen Kultur und bleibt bis heute ein großer intellektueller Gegensatz zwischen Europa und den USA. Es fällt manchmal schwer, sich beim Anbruch des 3. Jahrtausends noch daran zu erinnern, dass die kommunistischen Parteien in ganz Europa das Symbol des antifaschistischen Widerstands waren. Sie spielten auch weltweit eine bedeutende Rolle in den nationalen Befreiungsbewegungen, vor allem in Afrika und Asien. Das wirkmächtige Buch von André Malraux, La condition humaine (1934), zeugt von dieser Größe und Tragik des Kommunismus, genauso wie in einer anderen Zeit und in einem anderen geopolitischen Kontext das Leben und Werk von Nelson Mandela (1994).

Edward Said fügt dem aus seiner Position in den Vereinigten Staaten von Amerika noch eine weitere aufschlussreiche Einsicht hinzu:

"Der Antihumanismus setzte sich in der intellektuellen Szenerie der Vereinigten Staaten zum Teil auch wegen der verbreiteten Ablehnung des Vietnamkriegs durch. Zu diesem Umschwung gehörte das Aufkommen einer Widerstandsbewegung gegen den Rassismus, den Imperialismus überhaupt und gegen die staubtrockenen akademischen Humanities, die jahrelang eine unpolitische, weltfremde und ignorante (manchmal sogar manipulative) Einstellung zur Gegenwart repräsentiert hatten, während sie gleichzeitig eisern die Tugenden der Vergangenheit priesen." (2004: 13)

Die "neue" Linke in den USA verkörperte während der 1960er und 1970er Jahre eine militante Spielart des radikalen Antihumanismus, die in einem Gegensatz nicht nur zur liberalen Mehrheit, sondern auch zum marxistischen Humanismus der traditionellen Linken stand.

Ich bin mir durchaus bewusst, dass es für die jüngeren Generationen wie auch für all jene, die in der kontinentaleuropäischen Philosophie nicht so bewandert sind, schockierend klingt, dass der Marxismus - der inzwischen abgestempelt ist als eine inhumane, gewalttätige Ideologie - in Wirklichkeit ein Humanismus sein soll. Um zu sehen, wie sich diese Auffassung entwickeln konnte, muss man nur daran denken, welchen Wert Philosophen wie Sartre und Simone de Beauvoir auf den Humanismus als Werkzeug kritischer Analyse legten. Für den Existentialismus war humanistisches Bewusstsein gleichermaßen Grundlage moralischer Verantwortung und politischer Freiheit.

Inhalt

Inhalt

Einleitung 7

Erstes Kapitel

Posthumanismus: Leben jenseits des Selbst 19

Antihumanismus 22

Tod"des" Menschen, Dekonstruktion der Frau 31

Die postsäkulare Wende 36

Die posthumane Herausforderung 42

Kritischer Posthumanismus 50

Schluss 55

Zweites Kapitel

Post-Anthropozentrismus: Leben jenseits der Art 61

Global Warning 63

Das Posthumane als Tierwerdung 72

Kompensatorischer Humanismus 81

Das Posthumane als Erdwerdung 85

Das Posthumane als Maschinenwerdung 94

Differenz als Prinzip des Nicht-Einen 100

Schluss 105

Drittes Kapitel

Das Inhumane: Leben jenseits des Todes 109

Formen des Sterbens 114

Jenseits der Biopolitik 119

Forensische Gesellschaftstheorie 123

Zur heutigen Nekropolitik 125

Posthumane Theorie des Todes 133

Tod eines Subjekts 136

Unwahrnehmbarwerden 139

Schluss: Zur posthumanen Ethik 141

Viertes Kapitel

Posthumane Humanwissenschaften: Leben jenseits der Theorie 147

Institutionelle Dissonanzen 154

Die Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert 157

Posthumane kritische Theorie 167

Das"wirkliche" Subjekt der Geisteswissenschaften ist nicht"der Mensch" 172

Die globale"Multiversität" 176

Schluss 189

Posthumane Subjektivität 190

Posthumane Ethik 193

Affirmative Politik 195

Postmenschlich, allzu menschlich 197

Literatur 201

Dank 215

Schlagzeile

Der posthumane Mensch als soziale Utopie

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